Ein Gespräch mit dem Fotografen Fred Mayer

Für das ehemalige Online Magazin nodalpunkt unternahm die Schriftstellerin Peggy Mädler eine Gesprächsreise zu Schweizer Fotografen. Das erste Gespräch der Reihe führte Sie mit Fred Mayer durch.


Welches Foto, auf dem Du selbst zu sehen bist, fällt Dir spontan ein?

Fred Mayer: Meine Frau sitzt neben mir und immer, wenn ich etwas Schönes sage, bekomme ich Pluspunkte. Wenn ich jetzt sage: „Mir fällt das Hochzeitsfoto ein“ – dann bekomme ich sehr viele Punkte. Das war ein grosses Ereignis. Wir haben geheiratet und uns selbständig gemacht. Wir waren von da an eine Ehe-Firma und auch eine Fotografen-Firma. Den Hochzeitstag habe ich noch nie vergessen. Weil es auch ihr Geburtstag ist. Und an das Foto mag ich mich sehr gern erinnern. Ganz schlank bin ich da. Und erst 24 Jahre alt.

Ilse Mayer: 23.

Fred Mayer: Nein, 24.

Ilse Mayer: Er sieht aus wie ein junger Bub. Das Foto sieht aus, als wenn gerade Konfirmation wäre.

Fred Mayer: Wir hatten einen sehr konservativen Schwiegervater, da musste es natürlich ein schwarzer Anzug sein. Erst Kirche und dann ein grosses Essen hinterher. Das Übliche. Ich hatte schon genügend Hochzeiten fotografiert – ich wusste, wie man es machen muss, um Erfolg zu haben. Am Ende war das Klavier, auf dem einer unserer Freunde gespielt hat, in Einzelteile zerlegt. Das war interessant, zu sehen, was da so drin ist.

Ilse Mayer: Wir hatten vier Fotografenfreunde bei unserer Hochzeit und keiner hat fotografiert. Und den, den wir eigentlich dafür beauftragt hatten, der ist auf dem Weg zur Hochzeit irgendwie verunglückt oder was weiss ich, der kam erst, als wir schon aus der Kirche raus waren. Wir haben also kein Foto von der Zeremonie, sondern nur von der Feier danach im Restaurant.

Fred Mayer: Man muss dazu sagen, ich war damals Agenturfotograf und Ilse war Pressefotografin für die Keystone-Agentur. Also habe ich sie einfach geheiratet, da hatte ich gleich eine Konkurrenz weniger. Inzwischen haben wir über 30 Bücher zusammen gemacht.

Kannst Du Dich noch an Deine erste Aufnahme erinnern?

Fred Mayer: Das war in der Lehrzeit in Luzern. In der Schweiz ging man damals relativ kurz zur Schule. Man hat nicht studiert – nur die ganz Guten waren dazu verurteilt. Die kamen in die höhere Schule. Und die anderen kamen in eine Berufsschule. Dort lernte man praktisch alles: vom Kleiderbügel machen bis zum Briefständer, das war meine Rettung. Ich war sehr schlecht in der Schule. Die sagten immer: „Fridolin, du kannst das schon.“ Aber ich konnte das gar nicht. Ich war nur gut im Sport. Sport wurde extrem gefördert, das war ja während des Krieges, die haben alle gedacht, sie brauchen später wieder Soldaten. Und als ich dann aus der Schule kam und eine Lehrstelle suchte, ging ich einfach zum besten Fotografen der Stadt, das war der Otto Pfeifer. Ich wusste anfangs überhaupt nicht, was Fotografie ist. Am Tag vor der Vorstellung bei Pfeifer habe ich einen Freund auf einen Brunnenrand gesetzt und mit der Klappkamera von meinem Vater eine Aufnahme gemacht. Im Fotogeschäft bekam ich davon einen 6×9 Abzug mit Büttenrand und den habe ich dem Pfeifer auf den Tisch gelegt und gesagt: „Sehen Sie, ich kann auch fotografieren.“ Der Pfeifer war sehr nett, er hat sich nicht mal kaputt gelacht. Nach drei Monaten hatte er schon keinen Angestellten mehr und ich durfte alles machen. Und eines Tages kam Sidney Bechet, dieser Jazzmusiker aus New Orleans, nach Luzern. Da habe ich eine Aufnahme von ihm gemacht, sie im Fotogeschäft vergrössern lassen und einer Zeitschrift gebracht. Die Aufnahme wurde dann im Luzerner Tagesblatt veröffentlicht. Und mein Chef hat zwei Monate nicht mehr mit mir geredet. Er hatte noch nie ein Foto in der Zeitung.

Ist es vorstellbar, dass Du nicht Fotograf geworden wärst?

Fred Mayer: Ich hätte alles werden können. Einmal wollte mir einer ein Blumengeschäft schenken. Während der Schule habe ich nämlich Blumen ausgetragen. Damit habe ich damals mehr verdient als mein Vater. Luzern war ja gross, jeden Tag gab es auch ein paar Tote und die bekommen Kränze. Es war schon damals so: man schenkte einen guten Kranz oder keinen und die musste ich den Leuten nach Hause bringen. In Luzern gibt man dir dann einen Batzen, das sind 20 Centimes, oder man gibt einen Nötli, das waren 5 Franken, also etwa 5 Mark. Und fast immer gab es 5 Franken, da habe ich bei vier, fünf Kränzen am Tag extrem viel verdient. Wenn nichts zu tun war, habe ich selbst Kränze gesteckt und Blumen gebunden und das hat dem Besitzer so imponiert, dass er gesagt hat: „Schick mir deinen Vater vorbei, ich schenk dir das Geschäft.“ Mein Vater hat mir aber davon abgeraten, an so ein Geschäft ist man ja dann gebunden. Und im Ruderclub hatten wir einen, der war Fotograf und der meinte: „Fotograf ist das Beste, da hast du immer Mädchen, die fotografiert werden wollen.“ So bin ich halt Fotograf geworden.

Unterscheidest Du zwischen einem beruflichen und einem privaten Blick auf Menschen oder Landschaften?

Fred Mayer: Ich – das sind zwei Menschen. Ich bin der Fridolin Mayer von Luzern und dann bin ich der Fred Mayer von Zürich. Und die beiden sind weit auseinander. Der Fridolin Mayer ist ein fauler Hund und würde am liebsten nicht viel machen. Nur schön leben. Und der Fred Mayer ist ein Fotograf ohne Pardon. Wenn ich arbeite, dann wird eben gearbeitet. Ich habe das Glück gehabt, dass ich immer das tun konnte, was ich wollte. Da wurde ich eben von Geo gefragt: „Willst du nach Bali?“ „Natürlich, vielen Dank.“ „Wie lange willst du gehen?“ „Drei Wochen.“ Und dann brachte man die Fotos zurück und sie sagten: „Interessiert dich Trüffelsuchen oder so?“ Auf einmal war man der Geofotograf. Und dann kam noch Magnum dazu.

Wie real ist Deine fotografierte Welt?

Fred Mayer: Abgesehen von meinem aktuellen Buchprojekt über Hermann Hesses „Siddharta“ ist kein Foto gestellt, nur arrangiert. Ich habe die Taktik, dass ich den Leuten nie sage, was sie machen sollen, aber ich bringe die Leute soweit, dass sie meinen, sie tun es von sich aus. Wenn ich unserem Reiseführer bei dem Siddhartaprojekt gesagt habe: „Ich fotografiere dich jetzt als Siddharta“, dann war er Siddharta. Er glaubte in dem Moment, er ist Siddharta.

Ilse Mayer: Er hatte natürlich das Buch vorher gelesen.

Fred Mayer: Wir hatten ihm vorher das Buch gegeben und er hat es innerhalb von drei Wochen gelesen und gesagt: „Das hat mein Leben verändert.“ Jetzt muss ich ihm nur noch sagen: „Du bist traurig oder jetzt bist du halb verrückt, weil du so lange meditiert hast“, und dann kommt das Bild einfach raus. Ich rühre keinen Finger. Aber es ist schon eine Inszenierung, den Ort muss man auch finden, zu einem Tempel sind wir viermal hingefahren, nur damit die Sonne einen bestimmten Schatten wirft.

Wie schön ist Deine fotografierte Welt?

Fred Mayer: Viele von den ganz schönen Sachen, die ich erlebt habe, habe ich gar nicht fotografiert. Schöne Sonnenuntergänge oder was auch immer. Da haben wir nur da gesessen und zugeschaut. Ich fotografiere Menschen und das Leben von Menschen. Ab und zu fotografiere ich auch eine schöne Landschaft, weil das die Grafiker lieben. Ich werde als ein Fotograf gehandelt, der immer alles nach Hause bringt. Der den Auftrag hundertprozentig erledigt.

Aber ich falle immer auf den goldenen Schnitt herein. Das ist ein Elend bei mir. Das Foto stimmt immer. Ich kann kein Foto zerschneiden. Und bei den Reportagen für Geo hat Ilse zu mir gesagt: „Mach doch mal ein Foto, das schlechter – also nicht schlechter, aber fehlerhaft ist.“ Wenn alles immer perfekt ist, ist es langweilig, und das stimmt. Man darf nicht perfekt sein im Leben. Man muss immer Fehler einbauen, sonst ist man ein Langweiler.

Träumst Du Fotos?

Fred Mayer: Ich träume nie Fotos. Ich träume manchmal von Computern. Habe ich das Ding abgestellt oder läuft es noch? Habe ich bei der Bildbearbeitung etwas vergessen oder falsch gelöscht? Früher kam ich mit einer Reportage heim und habe meine 30 Filme einfach an Kodak geschickt. Und dann kamen 50 Schachteln zurück und wir haben uns mit dem Projektor auf den Boden gesetzt und Ilse hat dann gesagt: Gut / Nicht gut.

Welches Bild hättest Du gern (selbst) gemacht?

Fred Mayer: Das Bild von Cartier-Bresson hätte ich gern gemacht, wo der Junge über die Pfütze springt. („Hinter dem Saint-Lazare Bahnhof“, 1932) Das ist schon grosse Klasse. Da stimmt alles. Es ist einfach gut. Und dann hat er noch eins gemacht mit den Tauben und dem Matisse im Atelier. (Henri Matisse, 1944) Es gibt natürlich unendlich viele gute Fotos, aber die meisten kamen damals aus Amerika. In Europa war der Fotografenberuf anfangs nichts, wir wurden angesehen wie kleine Idioten. Und dann hat der Fotograf Antony Armstrong 1960 die Prinzessin Margret geheiratet. Da sind wir königlich aufgestiegen und wurden plötzlich mehr geachtet. Wir sind wie Cartier-Bresson und viele andere durch die Welt gereist und wenn man in Bali war, hatte man auf den Aufnahmen auch vier oder fünf Mädchen mit nackten Brüsten drauf, das war zu der Zeit noch eine absolute Sensation und es kam in jede Zeitschrift, das war verrückt. Die Leute kannten die Welt ja nicht, sie hatten keine Ahnung und dann kommen plötzlich Bilder aus Afghanistan. Das war umwerfend.

Jeder Mensch hat seine Welt und seine Zeit. In Zürich soll jetzt einer eine Ausstellung haben, die ist weiss. Der hat weisse Fotos auf weissem Papier und man sieht fast nichts. Es hat früher schon Maler gegeben, die haben auch weiss gemalt. Es ist alles eine Wiederholung, aber alles eben zu seiner Zeit.

Gibt es Momente, in denen Du aufhörst zu fotografieren oder in denen Du nicht fotografieren könntest?

Fred Mayer: Da gibt es sehr viele Momente. Das war zum Beispiel wichtig bei meinem Projekt über das russische Weltraumprogramm. Ich bin den Kosmonauten damals sehr nah gekommen, wurde privat eingeladen und wenn dann die grosse Wodkaflasche auf den Tisch kam und man packte die Kamera weg, dann bekam man Respekt. Dann wurde man wieder eingeladen.

Ilse Mayer: Oder in Vietnam, da ist der Fred bei einem Einsatz mitgeflogen, wo die Verwundeten aus der Kriegslinie gebracht wurden. Da hast Du auch nichts fotografiert.

Fred Mayer: Ich konnte ja auch gar nicht fotografieren, der Soldat hat mir beide Hände fest gehalten und immer geschrieen: „Mama, Mama.“ Der war todverwundet. Ich kann ja nicht einem Todverwundeten die Hände wegreissen und Fotos machen, das mach ich nicht.

Du hast als Bildstrecke für nodalpunkt einen Auszug aus Deinem aktuellen Buchprojekt ausgewählt. Wie kam es zu der Idee, den „Siddhartha“ von Hermann Hesse zu fotografieren?

Fred Mayer: Ich habe das Buch immer wieder gelesen, es hat mir in meinem Leben oft geholfen. Überhaupt sollten alle Leute zuerst Hesse lesen und dann erst getauft werden, wenn sie das dann noch wollen. Die Fotos sind einfach ein Anstoss, um selbst zu denken. Viele lesen so ein Buch und kommen nicht auf die Idee, dass sie sich selbst etwas vorstellen können. Es ist ja eine ganz banale Geschichte, die jeder junge Mann erlebt. Siddhartha zieht von Zuhause aus, durchlebt eine gewisse Lernzeit und hat einen gewissen Erfolg. Und dann kommen die religiösen Fragen und ganz am Schluss merkt man: eigentlich ist alles nur Theorie. Bei den Indern kommt der Buddha aus dem Oberschenkel der Mutter und das Jesuskindlein bei den Katholiken entsteht aus einer unbefleckten Empfängnis.

Ilse Mayer: Alles derselbe Kaffee.

Fred Mayer: Alle erzählen dasselbe, aber sie schlagen sich die Köpfe ein, alle wollen immer anders sein als die anderen. Keiner hat Gott gesehen, keiner weiss am Schluss, was kommt. Die Endfrage kann niemand beantworten. Und das macht Hesse im Grunde genommen sehr klar, oder? Ich habe das Buch gelesen und die Aussagen angestrichen, zu denen ich ein Foto machen wollte. Das habe ich bisher noch nie gemacht. Die Leute kommen von der Strasse, auf einmal ist einer der Siddhartha, und ein anderes Mal ist der Schafhirte der Buddha, dann kommt der Freund vom Reiseführer dazu und der Bruder ist der junge Siddhartha. Es ergibt sich immer mehr, es kommen immer mehr Leute, die in der Geschichte sein wollen. Wir müssen denen gar nichts mehr sagen. Überhaupt nichts. Das ist der Traum eines jeden Fotografen.

Fred Mayer

wurde 1933 in Luzern geboren. Nach der Schule absolviert er eine Fotografenlehre bei Otto Pfeifer. 1950 zieht er nach Zürich und ist für internationale Foto-Agenturen wie ATP, DPA und UPI tätig, seit 1965 arbeitet er für die Agentur Magnum in Paris, London und New York. 1956 heiratet er die Keystone-Fotografin Ilse Günther, 1957 wird ihre Tochter Sibyll geboren. Fred und Ilse Mayer veröffentlichen gemeinsam mehr als 30 Bildbände, 2006 wird Fred Mayer auf der photo06 mit dem Lifetime Award der Schweizer Berufsfotografen und Fotodesigner (SBF) für sein Lebenswerk ausgezeichnet.

Peggy Mädler

Peggy Mädler, 1976 in Dresden geboren, hat in Berlin Theater-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft studiert und 2008 in den Kulturwissenschaften auch promoviert. Sie arbeitet als freie Dramaturgin und Autorin und ist Mitbegründerin der Künstlerformation Labor für kontrafaktisches Denken. Von 2007 bis 2009 gehörte sie dem Gründungsvorstand des LAFT Berlin an, und sie wirkte beim Theaterkollektiv She She Pop mit. 2011 erschien im Verlag Galiani ihr erster Roman: »Legende vom Glück des Menschen« (Quelle: Galiani Berlin).